Das schlechte Gewissen

Das schlechte Gewissen in einem Briefumschlag, sorgfältig verklebt und adressiert, fast könnte man denken, alles sei in bester Ordnung, aber der schöne Schein trügt, lullt uns ein, macht die Bitterkeit salonfähig. Das ganze Leben findet Platz auf einer Briefmarke, wenn die Welt in Scherben liegt. Voller Wunder die Träume eines namenlosen Gottes zwischen den Zeilen. Geständnisse eines zum Tode Verurteilten, nichts als die halbe Wahrheit. Wer das liest, ist selbst schuldig – keine Gnade für die Mitwisser.

Außer Betrieb

Außer Betrieb oder wenigstens vorübergehend nur mit halber Kraft: die Dampfmaschine meines automatischen Schreibens. Gestern noch aus Fleisch und Blut, heute nur mehr ein Schatten, gänzlich saftlos die Schönheit des Erdachten, die einst entflammte Rede erstickt von lauen Winden, warmen Lüftchen der Notwendigkeit. Wohin all das ungestillte Verlangen? Woher die beleidigende Freundlichkeit der Dinge? Für eine Weile gemütlich eingerichtet auf absteigendem Ast, für unbestimmte Zeit, vielleicht für immer – seit jeher auf verlorenem Posten.

Die Hand eines Engels

Die Hand eines Engels auf meiner Stirn, so federleicht, mit allen Wassern gewaschen, bedeutungsschwanger, spürt sie den nachtschwarzen Träumen meines Fiebers nach. Für einen Augenblick nur verstummen die ruhelosen Geschöpfe des Schlafs, Ausgeburten des Wahnsinns, zum Schweigen verurteilt für die winzige Dauer eines Weltuntergangs. Irgendwann wird mit mir auch diese Hölle verschwinden. Spurlos. Nun liege ich da, vor der Zeit betrauert, wie es scheint, oder doch zu spät, kein Mensch kann das wissen, nicht einmal der Engel, dessen Hand mein Leben anhält.

Der kalte Atem

Der kalte Atem des sterbenden Winters an einem Tag wie diesem, so farblos wie das Lächeln einer Hochspannungsleitung, die sich quer durch die Landschaft quält. Eisblumen auf meiner Haut, die Verkünder weiterer Entsagung. In einem Zimmer ohne Fenster ergebe ich mich der Langeweile, buchstabiere die unzähligen Namen dieses trügerischen Friedens. Blick zur Uhr: das Leben tiefgefroren in den Fängen der Zeit – Speisekammer der Vergänglichkeit.

Ein letzter Gedanke

Ein letzter Gedanke, bevor die Schwere des Schlafs sich über diese Stadt ergießt. Ein letzter Ruf den Sternen entgegen, aller Schwärze der Welt zum Trotz. Mit unerhörter Leichtigkeit tauche ich ein in die Sprachlosigkeit menschenleerer Straßen, taumelnd, tanzend beinahe auf verlassener Bühne. Ein einziges Licht nur, das noch brennt, um der Nacht den Weg zu weisen. Ein Lied aus der Ferne: das Wimmern des Windes – betrunkener Wanderer ohne Gesicht, deine eiligen Schritte verklingen in meiner Brust. In meiner Hand die sterblichen Überreste des Tages: eine letzte Sekunde.

Mit aller Gewalt

Mit aller Gewalt die Schallmauer der Dämmerung durchbrechen, ungebremst, übers Ziel hinausschießen, dem neuen Tag entgegen, unaufhaltsam wie ein Sonnenstrahl. Dem Unbekannten über die Schulter spucken, dem Fremden, das mich fesselt, ins Gesicht und vor die Füße. Mit letzter Kraft den Blick abwenden von allem Künftigen in mir, das ans Tageslicht drängt, sich aus der Umklammerung schnöder Gegenwärtigkeit löst: eine Träne unter der Haut des Spiegels. Ich erkenne mich wieder – unschuldiger Keim meiner Neugier, bis auf weiteres vom Dienst suspendiert.

Wovon träumen wir

Wovon träumen wir, wenn unser Leben selbst zu einem Traum geworden ist – ohne Erwachen. Zu einem Griff nach den Sternen in uns, schwarz und stumm. Zu einer Reise ans Ende der Welt. Wenn all die Tode, die wir sterben mussten, umsonst gewesen sind. All die Momente, die zu Asche wurden im Fegefeuer der Erinnerung. All die Stunden in völliger Finsternis. Die Leere zwischen den Zeilen des niemals Geschriebenen. So schweigsam die Welt. Wovon träumen wir, wenn uns nichts mehr zu träumen bleibt?

Ohne Warnung

Ohne Warnung ging dieser Tag zu Ende, beinahe wie ein Film, von dem ich nicht sagen kann, ob es ein guter oder schlechter Film gewesen ist – vielleicht nur ein Zeitvertreib oder ein Ablenkungsmanöver. Ein heimlicher Versuch, diese Welt zu verlassen, ohne sterben zu müssen. In Wirklichkeit bin ich gestorben, wenigstens ein bisschen, und es macht mir nichts aus. Ich spüre, dass etwas anders ist, aber das stört mich nicht, weil es unbedeutend bleibt. Die Sinnlosigkeit ist immer dieselbe, darüber täuscht selbst mein gespielter Tod nicht hinweg.

Nicht der Rede wert

Nicht der Rede wert, was die Schatten flüstern – sie wissen nichts von der Schattenwelt, die sie bevölkern, sie ahnen nicht einmal, dass sie Schatten sind, ihre Worte aus Dunkelheit geflochten. Wer ihnen zuhört, lauscht dem Rauschen seines eigenen Blutes. Erzählungen aus vergangenen Zeiten in einer Welt, in der Zeit keinen Sinn macht, Geschichten aus einem Reich ohne Geschichte. Die Schatten selbst sind Worte auf der Suche nach Bedeutung. Wer sich ihnen hingibt, bleibt sprachlos zurück, ein sterbender Stern in der Schwärze der Nacht.

In kalter Erde

In kalter Erde die letzte Ruhe meiner Sehnsucht. Dem Treiben der Jahreszeiten verborgen, tief in meinem Innern, das Lächeln der Dunkelheit. Keine Zeit, die vergeht, sterbende Sprachen, gärende Gedanken, nicht einmal Landschaften, die der Sturm aufwühlte vor meinen Augen. Stattdessen die nackte Trostlosigkeit, der blasse Schimmer meines Herzschlags im Fortsein. Die schale Gewissheit, unter den Lebenden zu weilen – eine schwindende Erinnerung. Kein Weg führt hierher. Niemand verirrt sich hierher, ohne sich selbst abhanden zu kommen. Keine Besuchszeit. Keine Tür, die sich öffnet und wieder schließt. Kein Fenster. Niemand, der hinausblickt.