Verletzlich

Verletzlich die dünne Haut des menschlichen Lebens, bedroht nicht allein durch den stets nahen Tod, sondern durch das Wissen darum. Wir tanzen mit unserer Vorstellung von dem, was uns auslöscht. Mit unserer Ahnung, dass alles endet. Wenn wir gehen, gehen wir allein, aber mit einer ganzen Welt im Gepäck. Vielleicht ist noch Zeit – doch müssten wir zuerst begreifen, was Zeit überhaupt ist. In allem, was wir tun, ist unser Abschied gegenwärtig: tränenreich und melodramatisch. Wir spüren keinen Schmerz, aber wir tragen ihn mit uns herum.

Sonnenschein

Sonnenschein in einer dunklen Ecke des Winters, der letzte wärmende Augenblick in der kalten Abstellkammer der Welt. Hoffnung oder Abschied von der Hoffnung? Wenn ich gehe – was bleibt zurück? Wenn ich bleibe – wo werde ich sein? Ich folge dem Licht, das schwindet. Seit einer Ewigkeit auf der Flucht vor der Zeit. Seit jeher ohne Zukunft – auf Eis gelegt: das uneingelöste Versprechen des Lebens.

Rettung

Rettung in letzter Sekunde, das bedeutet: dem Leben ein Schnippchen schlagen. Diese Welt, dem Untergang geweiht, verlassen, bevor es zu spät ist – nur damit alles von vorne beginnt. Wir sind wie Kinder im Augenblick des Abschieds, ahnungslos und zielstrebig. Wir geben uns den fremden Stimmen hin, schenken ihnen Glauben. Wir vertrauen der Zukunft, die uns entwurzelt. Wir folgen dem Ruf, der uns für immer von hier entführt.

Die letzten Tage

Die letzten Tage des Jahres, nichts Außergewöhnliches, keine besonderen Vorkommnisse, nur der Anschein des ewig gleichen Weltuntergangs, sonnig und mild, fast scheinheilig. Gedanken an Abschied, doch das wäre verfrüht – und wovon auch wollte man sich verabschieden? Die letzten Tage, das sind Wochen, Monate, Jahre. Eine kleine Ewigkeit, die uns zermürbt: diese unheilvolle Mischung aus Ahnungslosigkeit und Langeweile.

Die Wunde bleibt

Die Wunde bleibt, selbst wenn wir längst verschwunden sind. Die Freundschaft ist eine unendliche Geschichte der Kränkungen. Wir sind uns am nächsten, wo wir uns verletzen. Vielleicht ist, was wir Liebe nennen, nur Verachtung. Sterbend erst verstehen wir uns, wir wissen vom anderen im Augenblick des Abschieds. Jeder Kuss, jeder Blick – eine Ahnung des Todes. Es ist der Schmerz, der uns öffnet, das Wissen um unsere Vergänglichkeit. Nur ein winziger Augenblick der Erkenntnis, ein kurzes Aufflackern unserer Menschlichkeit, dort, wo wir uns verlieren, unberührbar und fremd.

Ausverkauf der Farben

Ausverkauf der Farben an diesem Tag, der selbt grau in grau noch immer nett anzusehen wäre. Früh am Morgen schon der Regenbogen, dieses himmlische Tor zu einer Welt mit Schäfchen im Vorgarten und bestickten Tischdecken hinter verschlossener Tür. Nur wer alles aufgibt, kommt hindurch. Wer ohne langen Abschied vergisst, woher er kommt und wohin er will. Wer es wagt, die gedachte Linie des Horizonts zu überspringen. Das erstickende Blau des Himmels, dort, wo es sich von den Bäumen kitzeln lässt. Die schwarzen Schatten der Vögel, achtlos an verschlafene Wolken genagelt – wie ein geheimnisvoller Einkaufszettel. Das rote Blut in den Mundwinkeln des Frühlings, verstummt im Angesicht des Todes.

Du bist nicht allein

Du bist nicht allein im Augenblick des Abschieds. Auf deiner Schulter die unsichtbare Hand des Vergangenen, lächelnd hinter deinem Rücken der unbekannte Freund, in deinem Herzen das schleichende Gift unerfüllter Liebe. Abschied wovon? In dieser allgegenwärtigen Welt. Wohin du auch gehst, du nimmst deinen Schatten mit dir. In jedem Spiegel hinterlässt du eine Spur. Einzig unerreichbar: das Nirgendwo. Wovor du auch fliehst – du entkommst nicht deinen Träumen.

In Windeseile

In Windeseile um die ganze Welt: die Nachricht von deinem Verschwinden. Fluchtartig hast du diese Welt verlassen, still und heimlich wie ein Dieb. Ein verblassender Stern in der endlosen Weite der Nacht. Ohne ein Wort des Abschieds und der Hoffnung. Wo in dieser Dunkelheit bist du? Welche Unerreichbarkeit ist nun dein Zuhause? Welche unaussprechliche Ferne ziehst du dem Hier und Jetzt vor? Das Echo deiner Stimme wie eine Träne, die ins Meer fällt. Schwarzer Ozean des Vergessens, unbewegt wie ein blinder Spiegel. Ein Ertrinkender auf der anderen Seite – ein Ruf, der keine Spuren hinterlässt.