Du bist nicht allein im Augenblick des Abschieds. Auf deiner Schulter die unsichtbare Hand des Vergangenen, lächelnd hinter deinem Rücken der unbekannte Freund, in deinem Herzen das schleichende Gift unerfüllter Liebe. Abschied wovon? In dieser allgegenwärtigen Welt. Wohin du auch gehst, du nimmst deinen Schatten mit dir. In jedem Spiegel hinterlässt du eine Spur. Einzig unerreichbar: das Nirgendwo. Wovor du auch fliehst – du entkommst nicht deinen Träumen.
Schlagwort: Spiegel
Sieben Leben
Sieben Leben, die du an einer Hand abzählen kannst, um daran zu sterben. Kopfüber tauchst du ins Eiswasser des Vergessens, du öffnest deine Augen in völliger Finsternis, ohne zu wissen, woher du kommst und wohin du gehst. Ein neuer Mensch auf dem Sprung in eine bessere Welt. Sieben Leben, von denen kein einziges genügt, weil du dir selbst fremd bist. Du gehst diesen Weg, unbeirrbar, mit schlafwandlerischer Sicherheit – doch es ist nicht dein Ziel, zu dem er dich führt. Es ist nicht dein Herz, mit dem du hausieren gehst. Nicht dein Gesicht im Spiegel, den zu zerschlägst.
Zu schnell vorbei
Zu schnell vorbei dieser Moment, der wie ein ganzes Leben in mir verglüht. Diese Landschaft, die meinen Blick aus dem Fenster stürzen lässt. Diese Straße, die mich fortträgt ins Unbekannte – und an deren Ende ich doch wieder nur mir selbst begegne. Die Schönheit eines bunten Vogels, der durch meinen Kopf segelt wie ein Gedanke am Rande des Vergessens. Der kurze Schlaf in endloser Umnachtung eines lähmenden Fiebers. Das betörende Lächeln des Spiegels, während du dich von mir abwendest.
Kein Mitleid
Kein Mitleid mit dem Fremden im Spiegel. Blass und ausgezehrt das Gesicht, der Blick trüb ins Nichts gerichtet oder in ein inneres Exil. Seine Hände zittern, das Fieber steigt – bedauernswerter Sterblicher, von den Göttern verlassen. Was ist dir geblieben? Schweiß auf deiner Stirn, Tränen in deinen Augen. So groß bist du einst gewesen, dass dir die Welt zu eng wurde. Nun gehst du gebückt, du kriechst auf allen vieren. Kein Mitleid. Bloß noch der Schmerz.
Wenige Schritte
Wenige Schritte vom Ende der Welt entfernt, blicke ich in diesen Abgrund der Geschichte, furchtlos, skeptisch, noch immer nicht restlos überzeugt. Irgendwo, sag ich mir, muss diese Welt enden. Nun, da ich an der letzten Grenze stehe, erscheint es mir undenkbar. Was geschieht, wenn ich zu weit gehe? Wird eine unsichtbare Hand mich retten? Oder gibt sie mir den entscheidenden Stoß? Ich sehe hinüber zur anderen Seite – aber es gibt sie gar nicht: die andere Seite, es gibt kein dort drüben. Wie nur könnte ich überhaupt zu weit gehen? Ist es nicht vielmehr, als liefe ich gegen eine Wand? Ich sehe in diesen Abgrund, der wie ein erblindeter Spiegel ist: ich selbst ein Fremder in einer schwindenden Wirklichkeit.
Mit aller Gewalt
Mit aller Gewalt die Schallmauer der Dämmerung durchbrechen, ungebremst, übers Ziel hinausschießen, dem neuen Tag entgegen, unaufhaltsam wie ein Sonnenstrahl. Dem Unbekannten über die Schulter spucken, dem Fremden, das mich fesselt, ins Gesicht und vor die Füße. Mit letzter Kraft den Blick abwenden von allem Künftigen in mir, das ans Tageslicht drängt, sich aus der Umklammerung schnöder Gegenwärtigkeit löst: eine Träne unter der Haut des Spiegels. Ich erkenne mich wieder – unschuldiger Keim meiner Neugier, bis auf weiteres vom Dienst suspendiert.
Aus Feuer gemacht
Aus Feuer gemacht, dem Vergessen übergeben – was bleibt vom Menschen, wenn der Tag sich dem Ende neigt. Was bleibt von mir, wenn das letzte Wort geschrieben ist, der letzte Gesang verhallt? Was bleibt, wenn nichts mehr ist, wie es war? Im Wasser geboren, von Anfang an ein Ertrinkender. Weit geöffnet, die Augen eines Fisches, mit dem Kussmund voran ins Unsichtbare, blind, im Fahrwasser des Lichts. In Dunkelheit getaucht seit Anbeginn des Lebens unser Blick in den Spiegel.