Worauf warten

Worauf warten, wenn man doch nur zurückblickt? Wenn man durch den Tag stolpert, in Gedanken an gestern, blind für das Kommende. Wir träumen von verschneiten Hügeln in namenloser Ferne, von geflüsterten Liebesschwüren, von einer unsichtbaren Hand, die uns die Tränen aus dem Gesicht wischt. Worauf warten, wenn alles, worauf wir hoffen können, schon hinter uns liegt? Unsere Träume sind halbherzige Lügen. Unsere Hoffnungen – falsche Erinnerung. Sicher ist nur, dass wir vergeblich warten. Morgen, das ist ein Irrtum.

Kaltes Blut

Kaltes Blut in den Adern des beginnenden Tages. Keine Tränen für die verlorenen Momente eines ganzen Lebens. Was bleibt übrig, wenn wir uns abwenden? So viel zu tun, ob wir es wollen oder nicht, um die Beschaulichkeit unserer kleinen Welt zu bewahren, die Gemütlichkeit unserer Verzweiflung. So lange schon haben wir im Verborgenen gelebt, dass wir uns selbst fremd geworden sind. Nicht einmal ein Name will uns einfallen. Der Blick in den Spiegel ist ein Blick zurück. Wir öffnen unseren Mund, um nichts als Leere zu atmen.

Von Englein bewacht

Von Englein bewacht der Eingang ins Tal meiner Tränen. Die verstohlenen Blicke der Toten, das Wispern all der Vergessenen, die Traurigkeit der Steine. Kein Lebender verirrt sich hierher, wo die Sonne niemals untergeht, schwarz und schön wie die zur Faust geballte Nacht. Das verrückte Lachen der Gräser, die durchs Haar des Schlafenden streichen – ein Schlaf ohne Erwachen, weit geöffnet die Augen der Erinnerung, sinnlos und ohne Halt. Ein Lied auf den Lippen, das mit dem ersten Ton verklingt, ein Summen nur, ein Seufzer. Augen, die sich niemals schließen, in einem Land ohne Himmel. Niemand verlässt diesen Ort, diese Welt ohne Ausweg.

Wenige Worte

Wenige Worte, die noch zu verlieren wären angesichts der geschwätzigen Wirklichkeit. Deine Tage sind gezählt, jetzt, da die letzten Sekunden wie Ameisen umherirren. Dieses unwahrscheinliche Glück in Blut getaucht – wie zur Verhöhnung des Lebens. Die Jugend: eine Insel in den Armen des Todes. Dort, wo Träume zu Boden sinken wie welkes Herbstlaub. Wo Schreie auf dem Grund eines Sees begraben sind. Mein Blick – gehüllt in die Tränen ewigen Schweigens.

Glückliche Liebe

Glückliche Liebe, vielleicht, in einem anderen Leben, wer weiß, im Leben eines anderen. Nichts als Schatten sind wir, die einander umarmen, Wolken, die unter der Last ihrer Tränen zu Boden sinken. Unmöglich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne auf ein Grab zu treten. Enttäuschte Hoffnungen, wohin man blickt. Wir hinterlassen Spuren, die niemand findet, Worte, die niemand liest. Fremde sind wir, die sich selbst nicht kennen. Nichts besitzen wir – das allein ist liebenswert.

Weit entfernt

Weit entfernt von aller Tragik, von allem Schicksal, das die Menschen in die Nähe des Göttlichen rückt. Mit beiden Beinen auf dem Boden, dem Irdischen verhaftet, mit Gräsern auf Augenhöhe, nicht mit den Wipfeln der Bäume. Alle Tränen getrocknet, alles Blut, schwarz wie die verkohlte Sonne in meiner hohlen Hand. Alle Freuden ausgekostet, alle Feuer erloschen. Mit winzigen Schritten um die Welt, die so sehr geschrumpft ist, dass sie in meine Hosentasche passt. Himmel ist bloß noch ein Wort mit schalem Nachgeschmack. Man spuckt es aus und kaut weiter.

Kein Mitleid

Kein Mitleid mit dem Fremden im Spiegel. Blass und ausgezehrt das Gesicht, der Blick trüb ins Nichts gerichtet oder in ein inneres Exil. Seine Hände zittern, das Fieber steigt – bedauernswerter Sterblicher, von den Göttern verlassen. Was ist dir geblieben? Schweiß auf deiner Stirn, Tränen in deinen Augen. So groß bist du einst gewesen, dass dir die Welt zu eng wurde. Nun gehst du gebückt, du kriechst auf allen vieren. Kein Mitleid. Bloß noch der Schmerz.

Irgendwo brennt es

Irgendwo brennt es, fern von hier – zu fern, um wahr zu sein. Irgendwo, das ist am anderen Ende der Welt, dort, wo ich nicht bin, sonstwo – wo sonst? Rauch steigt auf, den ich nicht sehe, der mir dennoch Tränen in die Augen treibt. Wärmt es nicht sogar ein wenig, dieses stumme Feuer, taucht es nicht unser Leben in rot glühenden Schimmer? Diese Flamme, versprüht sie nicht Funken der Begeisterung, die bald schon als neugeborene Sterne über uns aufleuchten? Doch der Zauber scheint verflogen. Niemand glaubt mehr an die reinigende Kraft des Feuers. Es brennt. Wir werden sterben, am anderen Ende der Welt, irgendwo, das ist dort, wo wir im Leben nicht sein werden.

Fast unbemerkt

Fast unbemerkt der Untergang eines Sterns an diesem Abend, keine Kameras am Sterbebett, kein voreiliger Nachruf in den Notizbüchern der Allwissenden. Heimlich und still, ein Abschied ohne Schmerz und Tränen. Ein letzter Wunsch, den niemand hört, ein letztes Versprechen, unerfüllt wie all die anderen – dennoch ist nicht der richtige Augenblick, über Verfehlungen nachzudenken. Ein Abschied ohne Bedauern, kein Grund zur Aufregung, in wenigen Minuten ist alles vorbei: die halbe Ewigkeit ausgelöscht wie eine schummrige Funzel. Kein Mitleid. Nur die toten Augen der Nacht.

Zur Ruhe kommen

Zur Ruhe kommen oder gleich aufs Abstellgleis, die Hände in den Schoß legen, Kopf in den Sand, aller Sorgen entledigt. In den Spiegel sehen, ohne zu erschrecken, die eigenen Träume träumen, in meiner Haut stecken. Verwegenheit des Denkens an Tagen wie diesem, die man vergisst, noch ehe sie vergangen sind. Die Heimlichtuerei der Dinge aushalten, ihr Tuscheln und Grinsen, die verstohlenen Blicke. Tage, die man niemals vergisst. Dinge, die mir nicht aus dem Sinn gehen. Meine Tränen übergebe ich dem Sturm. Zurück bleibt nur eine vertrocknete Hülle: das angehaltene Herz meiner Lebenslust.