Auf der Durchreise in dieser Stadt, in diesem Leben. Ohne Eile – und doch keine Zeit zum Verweilen. Ein Fremder nur, namenlos, von niemandem erkannt, unsichtbar in der Menschenmenge. Gerade erst angekommen, muss ich schon wieder fort. Kein Ende des Weges in Sicht, kein Ziel, keine letzte Ruhe. Ich besitze nichts außer dem, was ich hinter mir ließ. Nur was ich vor langer Zeit verloren habe, trage ich noch bei mir. Ich schaue nicht zurück, blicke nicht nach vorn. Meine Schritte finden allein, wonach ich längst nicht mehr suche.
Kategorie: Nachrichten aus dem Niemandsland
(2011)
Niemand weiß
Niemand weiß, wovon du redest, wenn du über deinen Schmerz sprichst. Niemand ahnt, worum es geht, so sehr du dich auch bemühst, es allen zu erklären. Welchen Schmerz auch immer du mitzuteilen versuchst – es kommt nichts davon beim anderen an. Der Schmerz in deinem Kopf, in deinen Knochen, in deiner Seele. Du kannst sagen, was du willst – keiner versteht dich, keiner hört dir zu, keiner hört dich. Der Schmerz in deinen Gedanken, in deiner Vorstellung, in deiner Einbildung. Warum willst du, dass jemand erfährt, was allein für dich bestimmt ist? Dein Schmerz ist nichts ohne dich, er ist ein Teil von dir, unveräußerlich. Du bist nichts ohne deinen Schmerz. Es gibt Worte für das, was du empfindest, aber keine Sprache. Was du darüber erzählst, ist ohne Inhalt, ohne Substanz. Dein Schmerz bleibt stumm – du kannst noch so laut schreien.
Gerade rechtzeitig
Gerade rechtzeitig, um dem eigenen Scheitern beizuwohnen, um mitanzusehen, wie das mühsam konstruierte Kartenhaus wieder in sich zusammenstürzt. Das böse Erwachen aus tiefem Schlaf, der mir das süße Lied vom Gelingen vorsäuselte. Nun, da die Augen geöffnet sind, verdünnen sich die Träume zu bloßen Reminiszenzen dessen, was hätte sein können, sein sollen. Nun, da die geheimen Wünsche ans Licht kommen, verschwimmt, was gewiss schien, im Halbdunkel des Unmöglichen.
Die gute Fee
Die gute Fee, die mich zerdrückt mit ihren steinernen Wurstfingern. Die mich anlächelt wie ein Faustschlag ins Gesicht. Schlechte Zeiten für schlichte Gemüter, wenn die Zeichen der Liebe auf Sturm stehen. Wenn der siebte Himmel auf Durchzug schaltet. Bezaubert von den zarten Tönen deiner Glasaugen, dem süßen Geflüster deiner Reißzähne, dem Würgegriff deines Zwinkerns. Kaum zu glauben, wie tief einer fallen kann, der Gottes Hand als Sprungbrett benutzt.
Aus dem Kopf
Aus dem Kopf heraus in die wirkliche Welt mit den Gedanken, die dir Leben vorgaukeln, die dich glauben machen, du hättest alles unter Kontrolle, du hättest in der Hand, was mit dir geschieht oder nicht – bis sie ans Licht kommen. Erwachen aus den süßen Träumen von Freiheit und Selbstbestimmung, dem dunklen Wahn, der dich umnebelt. Den Schlaf aus den Haaren schütteln, die Müdigkeit aus den Knochen. Der neue Morgen wartet nicht auf dich und beginnt doch nicht ohne dich. Die Zukunft war gestern, wenn du darüber nachdenkst.
Klein und handlich
Klein und handlich: eine ganze Welt für die Hosentasche – das pralle Leben für unterwegs und zwischendurch. Das Hier und Jetzt en miniature, komplett und voll funktionsfähig. Nichts für große Hände zwar, aber niedlich anzusehen, verblüffend nah am Original, täuschend echt, mit Liebe zum Detail. Aber auch unendlich zerbrechlich. Zu nah am Wasser, im ständigen Schatten der drohenden Katastrophe – auf nichts gebaut. Flüchtige Schöpfung bloß oder gottlos? Zu klein, um verloren zu gehen. Zu unbedeutend, um vergessen zu werden.
Vom Himmel hoch
Vom Himmel hoch fallen die Sterne wie tote Fliegen – lautlos ins Unwiederbringliche. Ich sehe auf mit Augen, die keinen Halt mehr finden, und so kommt es mir vor, als stürzte ich in die Abwesenheit aller Dinge. Ich verlasse diese Welt durch das Abwasserrohr der Poesie. Nur schweigen ist schöner. Ich erkaufe es mir mit meinen Träumen. Zurück bleibt dieses schwarze Tuch der Nacht, die Einöde einer betäubten Vorstellungskraft – nichts, woran man sich klammern könnte. Das schwache Glimmen eines Klangs vielleicht, am anderen Ende der Milchstraße.
Ein neues Leben
Ein neues Leben, gestrickt aus einer Handvoll loser Fäden, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verbinden. Mit einem Lächeln versehen, von einem Ohr zum anderen, und einem Namen, der rückwärts buchstabiert eine unaussprechliche Zahl ergibt. Ängste und Sorge, die das Herz in die Mangel nehmen, um zu dem stolpernden Puls des Blutes eng umschlungen Walzer zu tanzen. Wünsche, die sich im Kreis drehen, weichgespülte Hoffnungen, Träume ohne Bild und Ton. Ein Mund, der alle Sprachen dieser Welt verschlingt. Augen aus erloschenen Sternen. Der Atem ein Sturm im Wasserglas.
Das dunkle Rauschen
Das dunkle Rauschen der Ferne, so kalt, so lebendig. Zahllose Stimmen, die sich dem Vergessen entringen, längst Vergangenes, das sich mitteilt wie ein winkendes Kind auf der anderen Straßenseite. Das Geschwätz der Liebenden. Die tastenden Schritte der Blinden am hellichten Tag. Das Lachen der zum Tode Verurteilten. Unnahbar die Abgeschiedenheit einer anderen Zeit, einer anderen Welt – und doch so vertraut, so gewöhnlich, so alltäglich. Vielleicht mein eigenes Leben, dem ich lausche: mit der Neugier eines Fremden.
Sonnenschein
Sonnenschein in einer dunklen Ecke des Winters, der letzte wärmende Augenblick in der kalten Abstellkammer der Welt. Hoffnung oder Abschied von der Hoffnung? Wenn ich gehe – was bleibt zurück? Wenn ich bleibe – wo werde ich sein? Ich folge dem Licht, das schwindet. Seit einer Ewigkeit auf der Flucht vor der Zeit. Seit jeher ohne Zukunft – auf Eis gelegt: das uneingelöste Versprechen des Lebens.